Tempered Radicals – Die sanften Rebellen der Organisation

von Clemens Böge

Wieder einmal verdanke ich einem brand eins Artikel einen spannenden und für mich neuen Begriff: Tempered Radical. Darunter werden Mitarbeiter verstanden, die einerseits ihrer Organisation gegenüber loyal sind und sich mit ihr identifizieren, gleichzeitig aber Werte und Überzeugungen vertreten, die der herrschenden Kultur in wesentlichen Aspekten zuwiderlaufen. Als Beispiel führt Thomas Vasek in brand eins einen Intensivmediziner an, der die moderne Gerätemedizin zwar nutzt, ihr aber sehr kritisch gegenüber steht, schwer kranken Patienten auch mal ein Schlaflied vorsingt und so die bestehenden Verhältnisse durch sein Tun in Frage stellt. Eine derart ambivalente Position birgt sowohl für die konkreten Personen als auch die Organisationen, in denen sie arbeiten, einige Herausforderungen aber auch viele Chancen.

Erstmals beschrieben wird das Phänomen des Tempered Radicalism 1995 von den beiden amerikanischen Forscherinnen Debra Meyerson und Maureen Scully in einem Fachartikel in Organization Science. Sie beschreiben darin (als feministische Forscherinnen an männlich dominierten Forschungseinrichtungen ein gutes Stück aus eigener Erfahrung), worunter Tempered Radicals teilweise leiden: Sie werden als Heuchler oder Scheinheilige bezeichnet, vereinsamen oder leiden unter Schuldgefühlen und Selbstzweifeln. Zwischen zwei Stühlen zu sitzen kann eine sehr unbequeme Sache sein. Und etwas verändern zu wollen, stößt zuverlässig auf den Widerstand derjenigen, die vom Status Quo profitieren.

So unbequem Tempered Radicals oft sein mögen, die Uneindeutigkeit ihrer Position kann einer Organisation aber auch Vorteile bringen. Vor allem, wenn es darum geht, dass sich etwas verändern soll oder muss:

  • Tempered Radicals sind „Außenseiter im Inneren“ und können so die Informationen eines Insiders mit der kritischen Haltung eines Externen Beobachters verbinden.
  • Sie stehen sowohl dem Status Quo als auch einem zu schnellen, radikalen Wandel kritisch gegenüber.
  • Sie sind in dieser Rolle „Anwälte für Ambivalenz“ – eine deutlich komplexere Situation als die offizieller Change Agents.

Gerade in geplanten und bewusst gesteuerten Change Management Prozessen ist es daher wichtig, solche ambivalenten Personen zu identifizieren und am Prozess zu beteiligen. Sie verkörpern häufig genau die Widersprüche in einer Organisation, die bearbeitet werden müssen, soll das Projekt erfolgreich umgesetzt werden. Thomas Vasek verweist allerdings mit Recht darauf, dass es ein Verlust wäre, die Rebellen zu offiziellen Change Agents zu machen. Man würde sie damit ihrer doppelten Identität berauben und damit der Möglichkeit, die herrschende Ordnung weiter in Frage zu stellen.

Bleibt die Frage, woher sie denn kommen sollen, die sanften Rebellen – so man sie denn gern in den eigenen Reihen hätte. Meyerson und Scully verweisen zurecht darauf, dass die Frage der Passung („fit“) üblicherweise eine dominante Rolle spielt, was dazu führt, dass Organisationen immer wieder ähnliche, zur Kultur passende Mitarbeiter einstellen. Eine andere Perspektive im Recruiting, welche Andersartigkeit und „Ecken und Kanten“ positiv bewertet und die bewusst nach Querdenkern Ausschau hält, könnte also einen Beitrag dazu leisten, mehr Veränderungspotential in Organisationen zu entwickeln.

 

Kommentieren